Dieses Wochenende besuchte ich den zweitägigen Netzpolitischen Kogress der Grünen Bundestagsfraktion, der am 12. und 13. November im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestags stattfand.
Der Kongress ist gut besucht – 500 Besucher waren es mindestens, davon übrigens auch eine ganze Reihe an Piraten und Mitglieder anderer Parteien. Auch der Livestream wurde wohl aktiv genutzt, wie man an der Menge an #nk10-Tweets feststellen konnte.
Der erste, etwas kürzere Tag bestand ausschließlich aus gesetzten Keynotes und Podiumsdiskussionen, die linear angeordnet waren. Am zweiten Tag gab es außerdem parallele Workshops sowie eine ganze Reihe an Barcamps. Das Konzept eines Barcamps war vielen Teilnehmern des Kongresses noch neu – es war wohl nicht nur der erste Netzpolitische Kongress, sondern auch das erste Barcamp überhaupt, das im Bundestag stattfand. Übrigens war es angeblich auch das erste Mal (und hier wird es fast schon peinlich), dass es weit gehend flächendeckendes, wenn auch nicht gerade perfekt funktionierendes W-LAN im Bundestag (oder zumindest im Paul-Löbe-Haus) gab.
Für leckere Snacks und Kaffee war gesorgt, ihren Club-Mate mussten sich die Piraten aber wohl noch selbst durch die Eingangskontrolle „schmuggeln“. Dass jeder die Saftgläser mit zu den Stühlen nehmen konnte, war wohl kein besonders geschickter Schachzug – es dürften wohl weit über ein Dutzend zerbrochen sein, da sie wie Stolperfallen überall verteilt herum lagen…
Vorbildlich war die Barrierefreiheit des Kongresses. Auffällig war beispielsweise, dass die komplette Veranstaltung live in Gebärdensprache gedolmetscht wurde – und das Angebot wurde auch genutzt. Außerdem gab es eine Kinderbetreuung, um Eltern den Besuch einfacher zu gestalten.
Eine fast schon babylonische Verwirrung gab es bei „Du/Sie-Frage“ – während unter Parteifreunden das „Du“ üblich ist, wurde es hier bei einem großen Teil der Veranstaltungen immer wieder aufs Neue verhandelt, ob man nun beispielsweise Peter Schaar duzen kann oder nicht.
Erwähnenswert ist auch der für eine netzpolitische Veranstaltung recht ungewöhnliche Ausklang der Veranstaltung: im „Zapata“, einer alternativen Bar, heruntergekommen wirkend, verraucht (auch, aber nicht nur Tabak), und ohrenbetäubender aber ansprechender Livemusik. Kurz: die angekündigte „Party“ war tatsächlich eine. 🙂
Eröffnung
Nach einer kurzen Eröffnung durch Konstantin von Notz hielt erst einmal Renate Künast eine Rede über die Bedeutung des Internets. Das Internet hat in den letzten 20 Jahren die gesamte Gesellschaft verändert, ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor geworden und hat vor allem ganz wesentlichen Einfluss auf den politischen Prozess. Wo es in den Gründungszeiten der Grünen noch als ehrgeizig galt, eine Demo innerhalb von 6 Wochen aufzuziehen, sei dies heute mitunter schon an einem Tag möglich, wenn das Thema emotional genug ist. Sie forderte ein „Informationsfreiheitsgesetz 2.0“, also Fortschritte in Richtung Open Data. Auch Hartz IV-Empfänger müssten ein Anrecht auf Internetzugang haben und der Verbraucherschutz im Netz müsse gestärkt werden. Sie zeigte Sympathien für die Idee des Datenbriefs des CCC, der Idee des digitalen Radiergummis teilte sie, wie auch der VDS und den Netzsperren eine klare Absage („wie Tipp-Ex auf dem Bildschirm…“).
Man merkte ihrer Rede aber auch an, dass sie sich in dem ganzen Thema nicht so ganz heimisch fühlte. Und mit dem Bild von der „Verrauchten Hafenkneipe“, als die sich manche das Internet wünschten, hat sie wohl verschiedenen Tweets zufolge ein neues Meme ins Leben gerufen…
Internet und Gesellschaft
Es folgte ein Vortrag von Saskia Sassen, einer Soziologie-Professorin an der Columbia University in New York. Sie sprach darüber, wie moderne Gesellschaften lose verknüpfte soziale Gefüge hervorbringen und wie hier Netzwerktechnologien genutzt werden können, die Gesellschaft voran zu bringen. Insbesondere sah sie Möglichkeiten, Techniken gerade der Finanzindustrie durch Arme und Machtlose (sie hatte hier vor allem Slums in Mega-Cities im Auge) zu übernehmen.
Der Vortrag war zwar recht engagiert und ihr ständiger Wechsel zwischen Englisch und Deutsch war nett anzuhören, aber leider hatte ich mitunter das Gefühl, dass dem Vortrag etwas das Konkrete, die Kernaussage fehlte.
Urheberrecht
Sehr spannend war der Vortrag von Prof. Reto Hilty vom Max-Planck-Institut für Geistiges Eigentum. Er stellte überzeugend dar, wie das Urheberrecht in der gelebten Form vor allem den Verwertern, weniger aber den Urhebern selbst nützt, und der Ehrlichkeit halber eher wie der utilitaristische Ansatz wie das anglo-amerikanische Copyright behandelt werden sollte. In seinen Augen behindert das Urheberrecht in seiner derzeitigen Ausgestaltung in vielfacher Weise den freien Wettbewerb, mit all den negativen Folgen, die sich aus einem Marktversagen ergeben. Firmen, die sich keinem Wettbewerb stellen müssen, hielten unflexibel an veraltenden Geschäftsmodellen fest. Die Musikindustrie betrieb beispielsweise lange ausschließlich Besitzstandwahrung durch Ausweitung der Schutzrechte und Einführung von DRM. Gegen Leistungsschutzrechte sprach er sich nicht grundsätzlich aus – insbesondere zeigte er ein gewisses Verständnis für den Verdruss der Zeitungsverleger, denen durch Angebote wie Google News ertragreicher Traffic entzogen würden. Problematisch an Leistungsschutzrechten sei aber, dass diese den Verwertern noch mehr Macht zuspielen – durch gängige Total-Buy-Out Verträge seien diese ohnehin bereits in einer zu starken Position. Noch viel schlimmer als bei Musik, Film oder Zeitungen wirkt sich dieses bei wissenschaftlichen Veröffentlichungen aus. Wissenschaftler, deren Erfolg sich häufig anhand der Veröffentlichungen in angesehenen Publikationen bemisst, seien quasi gezwungen, Exklusivverträge einzugehen, die sie häufig sogar davon abhalten, ihre Forschungsergebnisse auf ihrer private Website zu veröffentlichen. Auf der anderen Seite hätten Bibliotheken und Universitäten keine andere Wahl als die dann zu überhöhten Preisen angebotenen Publikationen zu kaufen. Hier plädierte Hilty wieder für Maßnahmen, die für mehr Wettbewerb sorgen sollten – insbesondere sprach er sich für die Möglichkeit einer Zwangslizenzierung aus, wie es sie bei Verwertungsgesellschaften wie z.B. der GEMA derzeit gibt.
Bei der anschließenden Diskussionsrunde kritisierte der Hamburger Justizsenator Till Steffen die gängige Abmahnpraxis, die im besonderen Maße zum Akzeptanzverlust des Urheberrechts geführt hat. Das Urheberrecht sei viel zu undifferenziert, da es ein schnell mal angefertigtes Foto auf gleiche Weise wie einen aufwändig produzierten Film behandele. Es stößt außerdem bei der verbreiteten Remix-Kultur an seine Grenzen und sorgt in seiner strengen Auslegung mit den Schutzrechten unter anderem dazu, dass heute „Brecht toter als Schiller“ ist. Künstler sollten auf alle Fälle weiter entscheiden können, ob ein Werk veröffentlicht werden soll – aber auf das „wie“ solle es künftiger weniger Einfluss geben.
Zum Abschluss des Urheberrechts-Blocks und zum Ausklang des ersten Tages unterhielt sich Claudia Roth noch auf recht lockere Weise mit dem Musikproduzenten Prof. Tim Renner über die heutigen Möglichkeiten für Musiker, von ihren Werken zu leben. Für sehr kleine Bands bietet das Internet sehr gute Möglichkeiten, sich überhaupt erst einmal eine gewisse Bekanntheit aufzubauen. Auch die großen Stars könnten heute viele Tätigkeiten selbst in die Hand nehmen und ihre Position gegenüber den Labels so stärken. Sehr schwierig sei es dagegen für kleinere Bands, die zwar schon von ihrer Musik leben wollen, aber auch keine großen Stars sind. Im Gegensatz zu letzteren, die für einen Auftritt in einer Olympiahalle leicht mal eben 150€ verlangen könnten, haben sie größere Probleme als früher, auch bei nur 15€ Eintritt noch genügend Besucher zu bekommen. Künstler müssten sich daher stärker auch kaufmännisch in eigener Sache betätigen und häufig in mehreren Bands gleichzeitig mitwirken, um davon leben zu können. Auf der anderen Seite gäbe es heute zwar weniger Indie-Labels als früher, diese begriffen sich aber stärker als reine Dienstleister für ihre Künstler – ein durchaus positiver Trend.
Besonders schön war das Gespräch, da Claudia Roth mit ihrer früheren Band „Ton Steine Scherben“ ja selbst einen vergleichbaren Hintergrund hat und das ganze daher häufig einen fast schon nostalgischen Beigeschmack bekam.
Geschäftsmodelle
Markus Beckedahl stellte in seinem Vortrag über „Offene Geschäftsmodelle im Internet“ zunächst offene Lizenzen vor, insbesondere die Creative Commons. Dann erzählte er von vielen Beispiel, bei denen sich durch die Nutzung des Internets und seines offenen Charakters neue Geschäftsmodelle ergaben. Früher gab es mit SuSE, Redhat etc. käufliche Linux-Distributionen – heute wird über Open-Source-Software eher über maßgeschneiderte Dienstleistungen Geld verdient. Magnatude verdient viel über Musik-Pauschallizenzen an Filmproduzenten, der MakerBot sei ein neues Konzept, das über seine offenen CAD-Daten Kreativität fördere, das Diaspora-Projekt sei ein erfolgreiches Beispiel für Crows-Funding und Cory Doctorow stelle seine Bücher auch unter einer CC-Lizenz online, was seinen Erfolg eher nütze als schade.
Christian Kroll stellte sein eigenes Projekt vor, die Suchmaschine Ecosia. Diese bezieht ihre Suchergebnisse von Yahoo und Bing!, finanziert sich über Werbeeinblendungen wie bei Google, nutze die Gewinne aber dafür, um ein Regenwald-Projekt des WWF zu unterstützen. Er sieht seine Firma damit als Mittelding aus kommerzieller Firma und gemeinnütziger Organisation.
Datenschutz
In „Welches Update braucht der Datenschutz?“ sprach der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar über die neuen Herausforderungen für den Datenschutz. Von dem Vortrag bekam ich leider nur wenige Teile mit, da ich in andere Gespräche vertieft war… Er verteidigte zumindest auch seinen zuletzt eingeschlagenen pragmatischen Kurs in der Diskussion um die Vorratsdatenspeicherung, eine Mini-VDS von ein bis zwei Wochen zu fordern, die dann ein weiteres Verfahren wie Quick Freeze ermögliche. Er verteidigte diese Forderung vor allem damit, dass zum jetzigen Zeitpunkt eine Vorratsdatenspeicherung einfach nicht mehr zu verhindern sei und er dann lieber darauf hinwirke, dass unter diesen Voraussetzungen noch eine möglichst gute Lösung zustande käme, als mit einer kompletten Ablehnung zwar ein reines Gewissen zu haben, aber letztlich nichts zu bewirken.
Grundgesetz
Als eines der Highlights des Kongresses wird wohl allgemein die Keynote von Prof. Susanne Baer angesehen, die zum Thema „Braucht das Grundgesetz ein Update?“ referierte. Sie wurde gerade vor ein paar Tagen erst als Richterin zum Bundesverfassungsgericht berufen, was es für sie wohl um einiges heikler machte, über mögliche Unzulänglichkeiten zu sprechen. Aber sie argumentierte ohnehin sehr präzise, warum das Grundgesetz recht gut gut geeignet ist, sich den neuen Herausforderungen zu stellen, gerade weil es eben nicht alles bis ins Detail regeln will, sondern vielmehr ein Framework bereit stelle, auf dessen Basis die konkretere Gesetzgebung und Rechtsprechung arbeiten könne. Ein kritischer Punkt sei aber die Frage, inwieweit das Grundgesetz verhindern könne, dass ein „Netz-Prekariat“ entstehe, sich der Digital Divide zwischen den Altersgruppen, den Einkommensschichten und verschiedenen Regionen noch verstärke. Sollte das Grundgesetz nicht gleiche Teilhabechancen sicherstellen können, bräuchte es möglicherweise in der Tat ein Update. Kurz sprach sie auch über Gefahren im Internet, wobei sie vielfach darauf hinwies, dass die Thematisierung der Probleme vor allem ihrer Tätigkeit als Juristin geschuldet sei – eigentlich müsse sie nach jedem Satz mindestens einmal „Das Netz ist super!“ rufen, um es angemessen zu würdigen. Trotzdem bestand sie darauf, auch nach einiger kritischen Nachfrage durch Jörg Tauss, dass das Internet nicht ausschließlich ein neutrales Abbild der Wirklichkeit sei, sondern (in Anlehnung an „The medium is the massage“) wie jedes Vermittlungsmedium auch in seiner Funktion als Medium Einfluss auf die transportierten Inhalte hätte. Die Anonymität sorge mitunter für einen raueren Umgangston, das Grundgesetz müsse aber trotzdem für Gewaltfreiheit sorgen. Das Grundgesetz wolle die Freiheit des Einzelnen sicherstellen – stütze sich dabei aber nicht auf den anarchischen Freiheitsbegriff, auch nicht den Neoliberalen, sondern auf eine sozial situierte Freiheit.
Demokratie und Internet
In mehreren Vorträgen und Workshops wurde der Themenkomplex Open Data und Open Government behandelt – insbesondere wurde deutlich gemacht, worin der Nutzen an Open Data liegt, einem Konzept, das vielen noch wenig bekannt ist (wo wir hier in Bayern ja als eines der letzten Bundesländer noch nicht einmal ein landesspezifisches Informationsfreiheitsgesetz haben). Wichtig ist, dass verschiedenste Daten aktiv von den Behörden veröffentlicht werden (nicht nur auf Einzelfallbasis, wenn BürgerInnen explizit nach diesem einen Datenset fragen) und diese in standardisierter maschinenlesbarer Form kosten- und diskriminierungslos veröffentlichen. Ab dann kann die Kreativität der BürgerInnen dafür sorgen, dass Anwendungen aus diesen Daten entstehen, an die man sonst gar nicht gedacht hätte – in anderen Ländern entstanden beispielsweise kleine, praktische Handy-Apps, die die jeweils nächste öffentliche Toilette, den nächsten Briefkasten etc. anzeigen. Um solche Anwendungen zu fördern, scheinen sich Wettbewerbe wie das aktuelle „Apps 4 Berlin“ gut zu eignen – wobei die Bekanntheit solcher Aktionen noch zu wünschen übrig lässt (eine Abgeordnete des Berliner Abgeordnetenhauses im Publikum wusste bis dahin beispielsweise noch gar nichts von dem Projekt; mir selbst war neu, dass in München auch etwas in diese Richtung geplant ist). Neben solcher (häufig vor allem auf kommunaler Ebene) praktischer Anwendungen sorgen offene Daten natürlich auch für mehr Transparenz und einem höheren Maß an öffentlicher Kontrolle – als positives Beispiel wurde hier eine Aktion des Guardians dargestellt, der die Spesenabrechnung der Abgeordneten veröffentlichte, tausende an Seiten, und in dem die Bürger in einer „Crowd-Sourcing-Aktion“ viele Unregelmäßigkeiten festgestellt wurden.
In dem Diskussionspanel „Demokratie und Internet“, in dem unter anderen Jürgen Trittin und Annette Mühlbeck von ver.di diskutierten, ging es vor allem um die Chancen von ePartizipation. Diese kann für eine höhere Legitimation der politischen Entscheidungen sorgen, wenn möglichst viele Bürger möglichst frühzeitig beteiligt werden. Allerdings berge eine ausschließliche Ausrichtung auf Partizipation über das Internet auch die Gefahr, dass vor allem diejenigen Bevölkerungsschichten wahrgenommen werden, die sich überdurchschnittlich gut im Internet artikulieren können – es muss unbedingt sichergestellt werden, dass auch die weiterhin vorhandenen Offliner Gehör finden. Recht harsche Kritik übte Annette außerdem noch an den bestehenden Form von ePartizipation, insbesondere an der ePetition des Deutschen Bundestags – diese stelle de facto eine nicht akzeptable Abschaffung des Datenschutz dar.